Ein heftiges Schuljahr endet und auf Österreichs SchülerInnen kam in den letzten Monaten vieles zu. Perspektiven- und Visionslosigkeit, das Hochhalten von Retroprinzipien und das Festhalten an einer Selektion, wo keine sein dürfte. Jede/r kann unterschiedliche Ansätze der Bildungspolitik verschieden einschätzen, aber während auf anderen Gebieten „Speed kills“ eine Wiederauflage erlebt, hält das Schulsystem an alten Konzepten fest, die schon früher fragwürdig waren.
Antworten auf die richtigen Fragen
Wer die richtigen Fragen stellt, kann valide Antworten erhalten. Wer Ressentiments wiederkäut, läuft stets hinterher. Vielleicht bringen diese Worte Österreichs Bildungspolitik treffend auf den Punkt. Bevor ich ins Detail gehe - und da gibt es sehr innovative Ansätze - lohnt die Beschäftigung mit der Metaebene. Selbstredend geben bildungspolitische Prioritäten Herausforderungen der Gegenwart wieder. Die drängende Herausforderung unserer Zeit ist die Integration mehrerer Völker und Kulturen in ein kohärentes Ganzes, das - gemäß unserer Tradition - von den Werten der Aufklärung geprägt ist, oder sein sollte. Auf der Metaebene sehe ich, dass diesem Aspekt nicht mehr die notwendige Wichtigkeit gegeben wird. Ab 2019 sollen die Mittel für Anstrengungen bei der Integration in der Schule um die Hälfte gekürzt werden.
In der Volksschule sind ab nun die Ziffernnoten in den ersten drei Schulstufen wieder Pflicht. Aus pädagogischer Sicht geht es darum, dass die SchülerInnen ihren Fortschritt verstehen und an Herausforderungen effizient arbeiten können. Ob Ziffernnoten hier der Weisheits letzter Schluss sind, darf hinterfragt werden, zumal eine detaillierte, verbale Beurteilung mit Verbesserungsvorschlägen vielleicht besser verstanden würde. Mit der Leistungsgesellschaft haben Ziffernnoten nichts zu tun. Leistung kann auch auf eine andere Weise wesentlich besser evaluiert werden.
Der Regierungs- und Ministerwechsel änderte auch nichts an der Tatsache, dass weiterhin an der Selektion mit zehn Jahren festgehalten wird. Aus entwicklungspsychologischer und pädagogischer Sicht findet diese mindestens zwei Jahre zu früh statt. Besser wäre der Schnitt sogar erst mit 14. Jede Lehrkraft unter meinen LeserInnen wird diesen Eindruck teilen: Im Alter von 12, 13 und 14 Jahren machen die SchülerInnen einen gewaltigen Entwicklungssprung. Daher ist eine Selektion vorher vergebens, weil sich die Interessen in dieser Phase verändern und Stärken anders wahrgenommen werden.
Wie sieht es mit der Lernumgebung aus?
Das Denkmodell, das diesem Blog zugrunde liegt, ist folgendes: Nehmen wir an, es gäbe die Schule, wie wir sie kennen, nicht. Sie müsste neu erfunden werden und wir begännen auf einem weißen Blatt Papier. Sähe das Resultat wie die heutige Schule aus? Vermutlich nicht. Wir haben heute einen anderen Wissensstand als noch vor 200 Jahren. Beispielsweise wissen wir, dass sich die SchülerInnen 15 Minuten lang sehr gut für einen externen Input konzentrieren können. Danach ist es effektiver, in die selbstständige Arbeit zu wechseln, bevor nach einer Zeit die nächste Input-Phase folgen kann. Der Gestaltung der Lernumgebung sind heute fast keine Grenzen mehr gesetzt. Die neuen Medien ermöglichen einen individuellen Zugang zum Lernerlebnis (der Begriff „Erlebnis“ ist bewusst gewählt; Anm.) und dennoch eine Standardisierung.
Allein, dass mithilfe moderner Medien auf unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten eingegangen werden kann, ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, die Lernumgebung Task-orientiert zu gestalten. Für die Erfüllung verschiedener Aufgaben werden unterschiedliche Umgebungen aufgesucht. Hierbei geht es vor allem um eine Fokussierung auf das zu behandelnde Thema, nicht das Fach. In den vielen europäischen Bildungsprojekten, die ich administrieren durfte und darf, geht es stets um die Frage, wie kann die pädagogische Interaktion optimiert werden, zumal im üblichen Klassen-Setting viele Potenziale ungenützt bleiben. Wenn die Frage nach dem Setting geklärt ist, können Überlegungen angestellt werden, wie neue Medien bei der Gestaltung der Lernumgebung unterstützen können.
Von der Autonomie zur Deutsch-Förderklasse
Die letzte Regierung hat die Autonomie des Schulstandorts ins Zentrum gerückt. Denn nur am Schulstandort selbst könnten die unterschiedlichsten Herausforderungen zeitgerecht erkannt und bekämpft werden. Den DirektorInnen sollte mehr Gestaltungsspielraum aus pädagogischer und personeller Sicht gegeben werden. Doch dieses Vorhaben ist aus dem Fokus geraten und stattdessen scheinen die Probleme unseres Bildungssystems - so das Narrativ - in mangelnden Deutschkenntnissen der SchülerInnen zu liegen. Natürlich ist es essentiell, dass jede/r dem Unterrichtsgeschehen folgen kann und über entsprechende Deutschkenntnisse verfügt.
Aber die Idee, allen SchülerInnen, die nicht über das entsprechende Sprachniveau verfügen, isoliert die deutsche Sprache beizubringen, verkennt den pädagogischen Prozess. Denn Lernen ist auch ein sozialer Akt. Kinder lernen am effektivsten voneinander, wenn die Gruppe diversifiziert ist, was den Wissensstand betrifft, zumal hier eine positive Dynamik stattfinden kann. Fasst man alle leistungsschwachen SchülerInnen in einer Klasse zusammen, fällt diese Dynamik weg. Würden wir die Autonomie des Schulstandorts immer noch hochhalten, so überließen wir die Problemlösung der jeweiligen Schule und stellten die finanziellen Mittel zur Verfügung. Doch die verpflichtenden Deutsch-Förderklassen sind das diametrale Gegenteil dazu.
Bleibt die Fantasielosigkeit?
Am Ende des Tages stehen die Schulen vor mehr Fragen als Antworten. Sie werden den Sommer dringend brauchen, um einen fundierten Überblick über die tatsächlichen Neuerungen und deren Umsetzbarkeit zu erhalten. Der Idealist in mir stößt sich an der Tatsache, dass die Bildung in Österreich stets von politischen Gräben geprägt sein muss. Das Wohl der Kinder steht dabei längst nicht mehr im Vordergrund. Man arbeitet sogar gegen sie, und damit gegen unsere Zukunft, macht man ihnen nicht die neuesten Erkenntnisse im täglichen Betrieb zugänglich. Bildung scheint am innovativsten zu sein, wenn man systemisch „out-of-the-box“ denken kann. So erziehen wir Kinder, die später unsere Gesellschaft weiterentwickeln können …