Wenn der Pragmatismus die Emotionen des Wahlkampfes in einen Schleier der Ernüchterung hüllt, findet man sich in der großen Koalition in Deutschland wieder. Gemäß des Mottos „Die Dinge werden nie so heiß gegessen wie sie gekocht werden“ arbeiten plötzlich jene zusammen, die unter keinen Umständen kooperieren wollten. Dass die SPD als Siegerin im Poker um Posten von vielen JournalistInnen wahrgenommen wird, dürfte trotzdem nur ein schwacher Trost sein.
Wenn man muss und nicht will
Demokratische Wahlergebnisse können manchmal Varianten erzwingen, welche die Beteiligten nicht wollen. Nach dem Scheitern der sogenannten Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, FDP und Grüne blieb nur eine erneute Zusammenarbeit zwischen CDU/CSU und SPD übrig. Erneute Wahlen hätten beide Parteien evident geschwächt, zumal die WählerInnen bei der Wahl ihrer VolksvertreterInnen das Recht haben, Animositäten der ProtagonistInnen zu ignorieren.
Sie sollen zusammenarbeiten und gemäß des Wahlauftrags die politische Repräsentation organisieren. Weder bei Angela Merkel (CDU, Bundeskanzlerin) noch bei Martin Schulz (SPD) löst diese Variante Wohlbehagen aus. Beide sprangen über ihren ideologischen Schatten. Angela Merkel gab zumindest einen Ministerposten auf um Kanzlerin zu bleiben und die SPD stimmte einer zusätzlichen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zu. Im Gegenzug erhielt die SPD einen Ministerposten und Horst Seehofer (CSU) wird im Herbst seiner Politkarriere doch noch Minister.
Koalitionen sind keine Frage der Prinzipien
Wieder wird deutlich, dass Koalitionen nicht jener Ort sind, politische Prinzipien auf Gedeih und Verderb durchzusetzen. Die WählerInnen statten die jeweiligen Parteien nicht umsonst mit einem prozentuell gewichteten Vertrauen aus. Um 100 Prozent Regierung zu erhalten, kann die CDU/CSU 60% und die SPD 40% ihre Forderungen durchsetzen. So funktioniert die Demokratie. Auch bei uns.
Natürlich werden während des Wahlkampfes rote Linien kommuniziert, über die man nicht schreiten will. Doch nach einer Wahl sieht die Realität stets anders aus. Das gute an diesem politischen Pragmatismus ist, dass das programmatische Prinzip dem Wahlauftrag weichen muss. Weil sich beide Parteien einer liberalen, offenen und toleranten Gesellschaft verpflichtet fühlen, sind ideologische Gräben leichter zu überbrücken. Bei einer Beteiligung der AfD gestaltete sich dieser Prozess schwieriger.
Verantwortung übernehmen
In jedem demokratischen System geht es vor allem um die Wahrnehmung der Verantwortung. Sonst stellte man sich nicht zur Wahl. Niemand setzt programmatisch alles um, was im Wahlprogramm steht. Dieses wird eher formuliert, um die ideologische Verortung für die WählerInnen transparent darzulegen. In Deutschland sind beide Regierungsparteien am Boden der politischen Realität angekommen. Natürlich muss der Koalitionsvertrag noch im Parteivorstand und in einer MitgliederInnenversammlung Zustimmung finden. Aber es wäre vermutlich ein Fehler, ihn abzulehnen …