Die bedenklichen Vorfälle der letzten Tage in den USA machen mich nachdenklich. Darf ich unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit meine Mitmenschen beleidigen, geschichtliche Fakten ignorieren oder offen zum Hass aufrufen? In den USA fehlt ein Gesetz gegen Wiederbetätigung und wenn die Meinungsfreiheit missbraucht wird, steht dieses Grundrecht in einem direkten Konflikt mit dem gesellschaftlichen Frieden. Interessanterweise ist auch Facebook dafür ein sehr treffendes Beispiel.
Mobbing als Meinungsfreiheit?
Jemanden zu diskreditieren, kann als Meinungsfreiheit ausgelegt werden. Sie/ihn zu verletzen, könnte die Angelegenheit von Gerichten werden. Mit anderen Worten: Auf die Meinungsfreiheit kann ich mich jederzeit berufen, auf Rufmord muss erst geklagt werden. Entsteht da nicht eine schiefe Optik? Die Menschenrechte, darunter auch das Recht auf Meinungsfreiheit, haben den Hintergrund, uns einen gewissen Grundschutz zu bieten. Unumstößliche Rechte, auf die wir uns jederzeit berufen können.
Wenn wir beobachten, wie Facebook schleppend auf diffamierende Hasspostings reagiert und wieviel Zeit vergeht, bis derartige Meldungen gelöscht werden, erkennen wir, dass sie in der amerikanischen Rechtstradition diesen schmalen Grat zu beschreiten haben. Was ist noch Meinungsfreiheit und was überschreitet gesetzliche Linien? Nachdem in den USA das Case-Law-System juristische Praxis ist und Präzedenzfälle in Gerichtsurteilen gefunden werden müssen, ist das oft ein langwieriger Prozess. In unserem Rechtssystem gibt es festgeschriebene Gesetze, an die wir uns zu halten haben.
Natürlich gibt es auch bei uns Grauzonen, aber lange nicht in diesem Ausmaß. Mobbing kann bei uns beispielsweise mehrere Tatbestände erfüllen und ist in diesem Wortlaut nicht im Gesetzestext verankert. Aber allein die Tatsache, dass mehrere Tatbestände gestreift werden, ist ein Zeichen einer strengen Reglementierung. Auf die Meinungsfreiheit darf ich mich in diesem Fall nicht berufen.
Der Freiheitsbegriff
Rosa Luxemburg sagte einst: „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Es geht bei der Meinungsfreiheit also darum, anders denken zu dürfen, nicht zwingend anders zu handeln. Ich darf anders denken, politisch anderer Meinung sein und vermutlich auch Hass verspüren. Hass zu verbreiten, Ressentiments gegen bestimmte Gesellschaftsgruppen zu schüren und offen die Werte-Gesellschaft zu hinterfragen, geht zu weit.
Die grundlegende Frage ist nicht, was man tun, sondern was man denken darf. Und das ist ein wesentlicher Unterschied. Rosa Luxemburg fasst das in einem Satz perfekt zusammen. Wenn am Ende einer Karriere ein Satz mit dieser Tragweite steht, bleibt man den Menschen in Erinnerung. Der Subtext zu diesem Satz kann auch folgendermaßen interpretiert werden. Die persönliche Freiheit stößt an ihre Grenzen, wenn die Freiheit der Anderen beeinträchtigt wird. Rassisten und Neonazis respektieren diese Grenzen nicht, erheben einen moralischen Anspruch auf ihre Überlegenheit als Gesellschaftsgruppe und drücken diesen Anspruch aus, indem sie Andersdenkende verbal und physisch erniedrigen.
Die Rolle der Politik
Gemäß einer allgemein gültigen Definition ist Politik die Herbeiführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Doch diese „kollektiv verbindlichen Entscheidungen“ werden nicht nur im Zuge eines Austauschprozesses von Interessen akkordiert. Oft genügt die schlichte Vorbildwirkung. Hier dürften sich einige PolitikerInnen ihrer Verantwortung nicht bewusst sein.
Denn es ist entscheidend, wie man lebt und was man sagt. Die AnhängerInnen werden sich daran orientieren. Wenn also die Staatsführung keine eindeutige Haltung hat, wird den BürgerInnen sehr viel Raum zur Interpretation eingeräumt. Natürlich sind sie primär eigenverantwortlich, aber wenn ihre PolitikerInnen Grauzonen nutzen, werden sie es auch tun. Und genau an diesem Punkt hat die US-Administration versagt.
Freiheit respektieren und nicht nur fordern
Ich beobachte, dass manche Menschen schnell beim Einfordern von Grundfreiheiten, wie z.B. der Meinungsfreiheit, sind. Aber gleichzeitig tun sie sich schwer, die Grenzen ihres Handelns abzustecken, um nicht die Freiheiten Anderer zu verletzen. Ein Beispiel aus den USA: Bewegungen protestieren mit Hakenkreuz-Flaggen und rufen White Power, ignorieren dabei aber völlig, dass erstens die gesellschaftliche Realität wesentlich diversifizierter ist, dass zweitens Menschen in ihrer Freiheit durch ihre Forderungen eingeschränkt werden und drittens, wird die geschichtliche Faktenlage ignoriert.
Im Idealfall lernen wir Menschen aus großen geschichtlichen Fehlern oder werden zumindest stetig daran erinnert. Großartige Frauen und Männer kämpften für die Menschenrechte und die Wahrung essenzieller Grundfreiheiten. Ihnen ist es zu verdanken, dass fehlgeleitete Ideologien öffentlich beworben werden können und sich Menschen frei ausdrücken dürfen - vielleicht manchmal etwas zu lange, bevor sie Konsequenzen fürchten müssen. Doch das Fundament, auf dem wir stehen, der Rechtsstaat mit seinen Grundfreiheiten, darf nicht durch die falsche Auslegung von Freiheiten hinterfragt werden. Zum Beispiel darf das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht den Tatbestand der Wiederbetätigung hinterfragen.