Nicht alle SchülerInnen lernen gleich schnell. Manche erfassen aufgrund ihrer Talente bestimmte Themengebiete schneller, hinken aber dafür bei anderen nach. Das ist auch gut so. Denn wir wollen keine homogene Gesellschaft, in der alle über einen Kamm geschoren werden. Daher brauchen wir ein Schulsystem, in dem individuelle Talente stärker gefördert und weniger die Schwächen gesucht werden. Vor ein paar Jahren habe ich dazu eine wunderbare Analogie gehört.
Schluss mit Glaubenskriegen
Nach wie vor führen wir in Österreich eine Diskussion entlang verschiedener Begriffe und verlieren dabei den Fokus. Als vorgestern der neue Bildungssprecher der ÖVP vorgestellt wurde, war eine der ersten Fragen der JournalistInnen, wie die Haltung zum Gymnasium wäre. Viel wichtiger ist, wie die Interaktion zwischen den SchülerInnen und dem/der LehrerIn verstanden wird. Seine Antwort war eine Fokussierung auf die Lehrkraft.
Wie sich vermutlich manche denken werden, habe ich hier eine andere Haltung, denn bei mir stehen die SchülerInnen nicht nur im Zentrum der pädagogischen Interaktion (Stichwort: SchülerInnen-zentriert), sondern sie sind auch der Ausgangspunkt für jede Reform des Bildungssystems. Mit anderen Worten: Was kommt bei den SchülerInnen im Unterricht an?
Unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten
Wir erinnern uns noch vielleicht an unsere Schulzeit. Manche unserer MitschülerInnen waren in bestimmten Fächern so viel schneller als wir, oder haben während der Unterrichtsstunde etwas besser verstanden. Beim Schreiben der Hausübungen war ihr Wissen wieder sehr gefragt, damit sie uns helfen konnten. Aber es gab auch Themenbereiche, wo es genau umgekehrt war. Universalgenies wie Adorno oder Galilei gibt es eben kaum.
Trotzdem müssen alle SchülerInnen innerhalb von 50 Minuten ähnlich gut unterrichtet werden. Dass manche von ihnen nur 30 Minuten benötigen, andere dafür 60, ist sozusagen Pech. Im Zuge der Hausübungen soll dieser Unterschied wieder begradigt werden. Ist das nicht vorgestrig? Der 50 Minuten-Takt entstammt einer Zeit, in der die Schülerinnen auf die Herausforderungen der industriellen Revolution vorbereitet wurden.
Und heute? Als Gesellschaft sind wir stolz darauf, dass die Menschen verschiedene Talente haben, die sie unterschiedlich einbringen können. In der Schule bedeutet das, verschiedene Lerngeschwindigkeiten sind kein Zeichen dafür, dass bestimmte SchülerInnen dümmer als andere sind. Wir sollten eine Diskussion darüber führen, wie wir diese Unterschiede nutzen können.
Das Bild des Kreisverkehrs
Während eines Besuches der Freien Schule Anne-Sophie in Künzelsau in der Nähe von Stuttgart, inspirierte mich ein Vortrag ganz besonders. Hier wurde das Lerntempo mit einer Kreisverkehr-Parabel erklärt. Die unterschiedlichen Ausfahrten sind die jeweiligen Ziele, die im Sinne des Lehrplans und des Kompetenzrasters zu erreichen wären. Der/die SchülerIn befindet sich im Kreisverkehr, der gleichbedeutend mit der Erarbeitung eines Themengebietes ist.
In diesem Zusammenhang werden die verschiedenen Kompetenzen geschult. Und erst, wenn sich der/die SchülerIn sicher fühlt, verlässt er/sie den Kreisverkehr. Sonst wird noch eine Extrarunde gedreht. Dieses System funktioniert deswegen so gut, weil der Lehrplan von den LehrerInnen nicht mehr nach Themen, sondern nach Kompetenzen aufgeschlüsselt wird. Wenn die Kompetenzen erfasst und anderweitig eingesetzt werden können, ist das Ziel erreicht.
Zu diesem Zwecke wird die Lehrstoff-Vermittlung in sehr kleinen Bausteinen vollzogen. Es kann leichter kontrolliert werden, ob alle „mitkommen“, zumal nach zwei Wochen stets eine Kompetenzüberprüfung stattfindet. Durch die Auflösung des 50 Minuten-Rasters und des traditionellen Klassenraums wird nicht nur das individuelle und eigenverantwortliche Lernen forciert, sondern auf verschiedene Lerngeschwindigkeiten Rücksicht genommen.
Ein neuer Diskussionsansatz
Bei der Kreisverkehr-Parabel gefällt mir besonders gut, dass ein komplett neuer Ansatz der pädagogischen Interaktion diskutiert wird. Man kann dieses Konzept befürworten, oder sich komplett dagegen stellen. Doch zumindest wird die Interaktion zwischen den SchülerInnen und ihrer Lehrkraft neu diskutiert. Es sind diese Diskussionen, die geführt werden müssen - und zwar immer und immer wieder. Sonst verbessern wir unser System nie.
Gibt es in zwei oder drei Jahren wieder etwas Neues, muss das ohne Scheuklappen zumindest diskutiert werden. In Österreich führen wir eine andere Diskussion. Hier wird mit verschiedenen Begriffen operiert und nur vereinzelt eine tatsächliche Änderung herbeigeführt. In der Diskussion sollten wir eigentlich reifer und thematisch weiter sein …