Wir sind schnell dabei, mit dem Finger auf Andere zu zeigen. Es müssen diese und jene Grundsätze befolgt werden und bevor wir selbst etwas tun, sollen die Anderen einmal machen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Vielleicht ist es eine zutiefst menschliche Haltung, die in Österreich auf die Spitze getrieben wird. Doch vielleicht sollten wir zunächst vor der eigenen Haustüre kehren.
Was würden Sie tun?
Nehmen wir für einen kurzen Moment an, wir leben in einem strukturell schwächeren Land. Wir leiden unter den Handelsabkommen mit der westlichen Welt und uns wurde die Lebensgrundlage durch den weltweiten Handel entzogen. Zum Beispiel durch Fischerei-Bestimmungen, die es westlichen Unternehmen ermöglichen, die Fischbestände, von denen Generationen vor uns lebten, leerzuräumen. Fair bezahlte Arbeit gibt es nicht mehr, weil sich große Konzerne ansiedeln und das billige Lohnniveau ausnützen und es vielleicht sogar weiter nach unten schrauben. Es wird nur noch für die Wegwerfgesellschaft produziert.
Nachhaltig ist nichts mehr. Weder unser Lebensstil, noch die Perspektive unserer Kinder. Wir nagen am Hungertuch und eigentlich macht es keinen Unterschied mehr, ob unser Leben durch Krieg, Verfolgung oder Hunger bedroht ist. Es ist bedroht. Fast schon wie in Legenden haben wir von einer besseren Welt gehört. Die Menschen dort können sich ihr Leben leisten, ihre Kinder zur Schule schicken und Nachrichten mit einem kleinen Kästchen verschicken und empfangen. Vielleicht sollten wir dorthin. Schlimmer als hier kann es nicht werden und wenn wir beim Versuch, aus unserer Situation zu fliehen, getötet werden, haben wir es zumindest versucht.
Derartige Schicksale sind kein Einzelfall. Diesen Menschen ist egal, welche Fluchtrouten gerade geschlossen werden, oder, ob der Zynismus soweit geht, die sogenannte Entwicklungshilfe zu „adaptieren“. Strukturell gehören diese Menschen aufgrund ihrer Herkunft zu den VerliererInnen der Weltgeschichte. Eigentlich ist das Rassismus in Reinkultur.
Es fängt mit dem Narrativ an
Ich finde das Narrativ der Alltagsdiskussion interessant. Im politischen Diskurs haben gerade jene die Oberhand, die den vermeintlich erworbenen Status in Gefahr sehen. „Wir haben es gut und unseren Kindern soll es auch einmal genauso ergehen.“ „Wenn jemand zu uns emigrieren möchte, möge er sich hinten anstellen.“ Oder: „Wen soll unser Sozialsystem noch auffangen?“ Doch selten stellen wir den Zusammenhang zwischen unserem Verhalten und den jeweiligen Fluchtursachen her.
Es ist dieses beinahe imperiale Verhalten, das uns die Welt - ohne bei den Betroffenen zu fragen - untereinander aufteilen lässt. Wir ermöglichen ausgewählten Firmen hier zu produzieren, dort zu fischen und unter bestimmten Voraussetzungen Handel zu betreiben. Dabei nutzen sie die örtliche Bevölkerung nach ihren Gewinnüberlegungen aus. In der politischen Diskussion höre ich nur von Vor- und Nachteilen für uns. Ich habe noch nie gehört, was wir tatsächlich tun könnten, um die Situation zu verbessern.
Ich höre immer von der Hilfe vor Ort und der Beseitigung der Fluchtursachen. Was ist mit unserer Verantwortung, die aus dem Handel entsteht? Oder, ist es notwendig, Waffenmaterial in den nahen Osten zu liefern? Oder, wieso reden wir immer von der Entwicklungshilfe und zahlen noch immer nicht jene Quote des BIPs, auf die man sich in den 1970er Jahren geeinigt hat? Wenn wir das Narrativ des Sozialmissbrauchs in der Diskussion bemühen, sollten wir das auch mit den üblichen Narrativen unserer Versäumnisse tun. Und genau hier fängt die Verlogenheit der Politik an.
Die Kunst des Weglassens
Denn es ist die Kunst der Politik, manche Details wegzulassen. Abhängig davon, welcher Partei des politischen Spektrums wir das Vertrauen schenken, werden manche Aspekte verschwiegen. Und da entlasse ich keine Partei aus ihrer Verantwortung. Ich misstraue grundsätzlich jenen, die einfache Antworten anbieten. Denn wenn die einfachen Erklärungsmuster tatsächlich stimmen würden, wären sie schon längst umgesetzt. Für den bevorstehenden Nationalratswahlkampf ergibt sich für uns BürgerInnen daraus die Pflicht, genauer zu recherchieren, was in Zeiten des Überangebots an Medien recht schwer ist.
Was kann ich als Individuum tun?
Auf der politischen Ebene sollte ich als Bürger meine demokratische Verantwortung derart wahrnehmen, kurz innezuhalten, nachzulesen und mir danach erst eine Meinung zu bilden. Mich von Demagoginnen und Demagogen blenden zu lassen, wäre unverantwortlich meinen Kindern und Kindeskindern gegenüber. Doch eigentlich fängt es schon bei der täglichen Einstellung an. Ich brauche keine „unfairen“ Lebensmittel oder Textilien aus unklaren Verhältnissen.
Das betrifft auch den Online-Handel! Wenn ich nicht nachvollziehen kann, wo und wie etwas produziert wird, kaufe ich es nicht. Denn die individuelle Verantwortung fängt schon im Kleinen an.
Wen soll ich ernst nehmen?
Für die bevorstehenden Wahlen heißt das, ich habe viel zu tun, bevor ich meinen Stimmzettel in die Wahlurne werfe. Eine ehrliche Darstellung komplexer Zusammenhänge wird nicht gewählt und daher auch nicht thematisiert. Es scheint effektiver zu sein, über plakative Maßnahmen, wie das Schließen der Mittelmeerroute, zu sprechen. Werden dadurch die Fluchtursachen bekämpft? Wohl kaum! Ist das Bildungssystem gerettet und der Wohlstand unserer Gesellschaft gesichert, wenn wir die islamischen Kindergärten schließen, die ja angeblich zur Bildung von Parallelgesellschaften beitragen? Zweifelhaft.
Man möge sich nur erinnern, wie viele Missbrauchsfälle in katholischen Kinderheimen bekannt wurden. Auch hier wurde eine Parallelgesellschaft gebildet - eine traumatisierte. Bei einzelnen Menschen, die mir versuchen, die Welt zu erklären, lasse ich Vorsicht walten - vor allem, wenn sie jung sind. Unwissende Profitgeilheit hat uns in eine veritable Weltwirtschaftskrise gesteuert. Unwissende PolitikerInnen könnten uns an den spaltenden Abgrund unserer Gesellschaft führen. Unsere Verantwortung als BürgerInnen scheint mehr denn je gefragt zu sein …