Das Referendum über eine Verfassungsänderung in der Türkei ist vorbei. Offiziell gewann das Ja-Lager mit etwas über 51 Prozent. Doch bevor wir in einem gewohnt österreichischen Reflex Türkei-Bashing betreiben und mal wieder alle über einen Kamm scheren, lohnt ein etwas differenzierter Blick auf die vergangenen Ereignisse. Nicht nur in der letzten Zeit, sondern auch in den letzten Jahren. Vielleicht kommen wir am Ende zum Schluss, dass der Ausgang dieses Referendums ein Zeichen für die Demokratie ist, obwohl das Ergebnis das Gegenteil vermuten lässt.
Jahre des System-Umbaus
Hinter den Ereignissen des letzten Sonntags liegt eine jahrelange Strategie, die schrittweise umgesetzt wurde und nun den ultimativen Zweck erfüllt zu haben scheint. Ein Blick auf die politische Landkarte der Türkei verrät, dass der Erfolg Erdogans dem türkischen Zentralland geschuldet ist. Die Groß- und Küstenstädte stimmten gegen eine Verfassungsänderung. Über Jahre hinweg wurde im türkischen Zentralland gezielt investiert. ArbeitsmigrantInnen in Europa - vor allem in Österreich - stammen aus dieser Region. Während ihres Heimaturlaubs jeden Sommer sahen sie Jahr für Jahr die positiven Veränderungen und stellten sich daher mehrheitlich hinter Erdogan.
Der andere Aspekt umfasst die kritischen Medien. Diese wurden jahrelang ausgehöhlt und manipuliert. Kritische Zeitungen wurden wegen eines angeblichen Terrorverdachts geschlossen und das staatliche Fernsehen ist fest in der Hand der AKP (Partei Erdogans, Anm.). Speziell nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden 150 Medienunternehmen geschlossen, über 100 JournalistInnen inhaftiert und 700 Presseausweise annulliert (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei/).
Im weltweiten Ranking der Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 151 von 180 abgerutscht (Quelle: Ebd.). Während des Wahlkampfes zum Referendum war die Opposition medial schlicht nicht präsent. So gesehen war der Ausgang von 49 Prozent gegen Erdogans Verfassungsänderung ein voller Erfolg. Gehen wir einmal davon aus, dass die Verdachtsmomente des Wahlbetrugs stimmen, hat das Nein-Lager sogar einen Sieg davon getragen. Aber das spielt keine Rolle mehr, zumal das Justizsystem fest in der Hand der AKP ist. Dieser Umbau war auch von langer Hand vorbereitet.
Als ArbeiterInnen willkommen, als StaatsbürgerInnen stigmatisiert
Die Situation türkischer ImmigrantInnen in Österreich ist etwas komplexer und ein Abbild der ambivalenten Haltung, die ihnen jahrelang entgegengebracht wurde. Umfragen unter ihnen legen nahe, dass sie eine hohe Zufriedenheit mit dem Staat Österreich haben. Dennoch konnte diese Zufriedenheit nie in ein Identitätsangebot transferiert werden. Offenbar wurde ihnen das Gefühl vermittelt, dass sie StaatsbürgerInnen zweiter Klasse wären, weshalb es interessanter war, in der türkischen Community Rückhalt zu suchen.
Recep Tayyip Erdogan hatte ein Identitätsangebot für all jene Türkinnen und Türken, für die Österreich nie eine wirkliche Heimat geworden ist. Kombiniert man das Ich-verstehe-euch-Gefühl von Erdogan mit dem Eindruck der Reformen in ihrer Heimat, ergibt sich der hohe Zuspruch für die AKP. In jenen Ländern, in denen ein effektives Identitätsangebot vorhanden ist, wie zum Beispiel in der Schweiz oder im Vereinigten Königreich, wurde das Verfassungsreferendum sehr deutlich abgelehnt.
Fazit: Integration ist vielschichtig!
In der öffentlichen Diskussion wird die Integration stets als Bringschuld jener verstanden, die zuziehen. Das ist aber leider nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die Gesellschaft, die das Gefühl des „Gewollt-Seins“ vermittelt, wenn man den Willen zur Integration zeigt. Unsere türkischstämmigen MitbürgerInnen waren als GastarbeiterInnen und fleißige Arbeitskräfte sehr willkommen. Jedoch immer unter der nie ausgesprochenen Prämisse, dass ihr Status nie über den eines Gastes hinausgehen sollte. Was folgte, war die Bildung einer Parallelgesellschaft - einer türkischen Community in Österreich.
Hier wurde jenes Identitätsangebot gemacht, dass zur damaligen Zeit der österreichische Staat und seine Gesellschaft nicht imstande waren, anzubieten. Daher rührt die hohe Zustimmung für Erdogan unter den türkischstämmigen ÖsterreicherInnen. In der Türkei selbst ist die Situation eine andere. Denn gerade in den Städten formiert sich eine breite Front gegen Recep Tayyip Erdogan. Doch bis diese eine breitenwirksame, politische Schlagkraft hat, ist es vermutlich leider zu spät …