Wie soll ich diese gesellschaftliche Grausamkeit jemals meiner Tochter erklären? Wie kann ich sie mir selbst erklären? Der Bürgerkrieg in Syrien hat eine neue Qualität bekommen, obwohl Qualität in diesem Zusammenhang wirklich kein Gütesiegel ist. (Bürger)Kriege sind ohnehin schon schlimm genug. Gesellschaftsgruppen eines Landes bekämpfen einander und die staatliche Ordnung versagt auf der gesamten Linie. Aber der Einsatz von Giftgas in einem (Bürger)Krieg ist das Niederträchtigste, wozu gegriffen werden kann. Nicht umsonst handelt es sich hierbei um ein Kriegsverbrechen. Die Menschen sterben einen qualvollen Tod. Und in Europa streiten wir ernsthaft über Verteilungsquoten.
Der I-sog’s-glei-Reflex
Fast schon reflexartig meint Russland, man hätte „objektive“ Daten, die belegen würden, ein Chemie-Waffen-Lager von Terroristen in der Nähe der Stadt Chen Scheichun wurde unabsichtlich getroffen. Ob das der Wahrheit in einer durch soziale Medien vorangetriebenen postfaktischen Welt entspricht? Auffällig ist jedenfalls, dass in Syrien schon öfter über den Einsatz von Chemie-Waffen berichtet wurde. Im August 2013 südöstlich von Damaskus mit 1.400 Todesopfern; im April 2014 in Talmenes; im März 2015 in Sarmin; im August 2015 in Marea; Ende 2016 in Aleppo und nun in Chan Scheichun.
Auch dieses Mal berichten AktivistInnen, dass dieser Angriff auf das Konto der Regierung in Damaskus und der russischen Luftwaffe gehe. Angela Merkel verurteilte den offensichtlichen C-Waffenangriff und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini machte das Regime Assads dafür verantwortlich. Tatsächlich spricht viel dagegen, dass dieser C-Waffen-Einsatz auf das Konto von Terroristen gehe. Erstens, Giftgas über so einen langen Zeitraum (2013 - 2017) einzusetzen und dabei ein nicht bemerktes Lager zu besitzen, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit außerhalb von Regierungsstrukturen. Die Ressourcen an C-Waffen wären zu groß.
Zweitens, das Giftgas wurde punktuell oft dort eingesetzt, wo die Rebellen gerade Fortschritte gegen die Truppen Assads verzeichneten. Drittens, verlören die Rebellen sofort die Unterstützung der Bevölkerung, wenn sie gegen diese C-Waffen einsetzen würden. Eingedenk der Lage der Rebellen, ein erheblicher Nachteil, der nicht in Kauf genommen werden dürfte. Vermutlich steckt da schon die syrisch-russische Allianz dahinter.
Syrien ein Failed State?
Die Kernaufgabe eines Staates ist, der eigenen Bevölkerung Schutz zu gewähren, nicht gegen sie vorzugehen. Ist die Kernaufgabe des Staates, der Schutz der eigenen Bevölkerung, noch gewährleistet? Bestehen noch rechtsstaatliche Strukturen (über die Natur des Rechtsstaates kann diskutiert werden)? Vermutlich besteht weder ein Schutz der eigenen Bevölkerung noch ein rechtsstaatlicher Rest, weshalb zumindest von einem beginnenden Failed State gesprochen werden kann.
Fazit: … und wir streiten über Quoten!
In Syrien herrscht Bürgerkrieg und es werden Chemiewaffen eingesetzt. Die Menschen flüchten vor genau diesen Zuständen, nicht, weil sie sich das beste Sozialsystem herauspicken wollen. Wenn nach einem C-Waffen-Angriff auch noch jenes Krankenhaus angegriffen wird, in welchem die Opfer behandelt werden, ist nichts mehr sicher. Ob die Menschen in der Türkei (Stichwort: Flüchtlingsdeal) vor Verfolgungen sicher sind, steht auf einem anderen Blatt Papier.
Während dessen entwickelt sich die UNO zu einem zahnlosen Konsortium, wenn ein Land (Russland, Anm.) blockiert. Barack Obama hat den nachweislichen und schweren Einsatz von C-Waffen immer als rote Linie definiert, die nicht überschritten werden darf. Unter Donald Trump mit seinem pro-russischen Kuschelkurs gilt das offenbar nicht mehr. Und in Europa streiten wir tatsächlich noch immer über Verteilungsquoten. Wir leben in einer zynischen Welt …