Wie gehen wir mit einem Land um, das sich von demokratischen Strukturen zu verabschieden scheint und sich in Richtung einer Autokratie entwickelt? Wir würden es verbal verurteilen und unsere europäischen Werte entgegenhalten. Bei Staatsbesuchen würden unsere VolksvertreterInnen auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Strukturen pochen und die Menschenrechtsfrage aufs Tapet bringen. Oder? Der Eiertanz mit der Türkei stellt diese Überzeugung in Frage. Denn während Europas Staatsspitzen bei Russland und China deutliche Worte finden, hat die Türkei Europa in eine seltsame Geiselhaft genommen.
Wenn Demokratie missverstanden wird
VerfechterInnen der beginnenden türkischen Autokratie führen stets den Volkswillen ins Treffen. Alle Veränderungen oder „Reformen“ seien demokratisch entschieden. Doch Demokratie wird nicht nur als die Entscheidung des Volkes verstanden, entsprechende Strukturen der Gewaltentrennung und der Entscheidungsfindung sind unabdingbar mit ihr verknüpft. Ein ganz wichtiger Teil jeder Demokratie ist die freie Presse. Journalisten mit dem Verdacht, der terroristischen Spionage ohne konkrete Beweise zu verhaften, ist weit weg von einem rechtsstaatlichen Verständnis. Ganz im Gegenteil.
Als demokratische StaatsbürgerInnen wollen wir die Gewissheit der rechtsstaatlichen Stabilität haben. Verhaftungen sollen nur aufgrund vorliegender Beweise erfolgen und nicht der Willkür unterliegen. Der Journalist Deniz Yücel hat sich zu Schulden kommen lassen, über den Machthaber Erdogan kritisch zu schreiben. Ihm kann also bestenfalls der Vorwurf gemacht werden, dass er seiner Arbeit als kritischer Journalist nachgegangen ist. Doch politische KritikerInnen durch Verhaftungen mundtot zu machen, hat unter Erdogan System. Demokratisch ist das jedenfalls nicht.
Beschämend für Europa
Ich bin von Europa, das seine Geschichte hochhält und die Lehren daraus gezogen haben will, enttäuscht. Der Grund, warum die Türkei ganz Europa in eine seltsame Geiselhaft nehmen kann, ist der Flüchtlingsdeal. Denn die Türkei hat sich bereiterklärt, den Flüchtlingsstrom aus dem nahen Osten an der eigenen Grenze zu EU zu stoppen und die Flüchtlinge zu beherbergen. Was da genau passiert, steht aber auf einem anderen Blatt Papier.
Die Unfähigkeit zur klaren Stellungnahme europäischer Staatsspitzen mit der Inkaufnahme aller Konsequenzen ist beschämend. Denn aus Angst vor der eigenen Unfähigkeit, lässt man sich lieber von der Türkei in Geiselhaft nehmen und die Problematik des Flüchtlingsstroms von einem Land lindern, das demokratische Strukturen mit Füßen tritt.
Fazit: In einer Demokratie leben, aber …
Nicht nachvollziehen kann ich die Haltung der in der EU lebenden Türken der zweiten und dritten Generation. Sie sind längst BürgerInnen der Europäischen Union und verteidigen einen autokratischen Staatspräsidenten? Offenbar ist der Zuspruch so groß, dass sich führende türkische Politiker dazu veranlasst fühlen, Wahlkampfauftritte in Deutschland oder den Niederlanden wahrzunehmen. Lässt man sie aufgrund von Sicherheitsbedenken nicht, werden diese Länder scharf kritisiert und der Botschafter in Ankara einbestellt. Ich habe eine liberale Haltung und bin der Meinung, dass Europa die Heimat für viele Menschen ist, deren grundsätzliche Haltung unserer entspricht. Aber in einer Demokratie leben und eine Autokratie verteidigen, ist befremdlich. Möchte man der türkischen Autokratie den europäischen Nährboden entziehen, sollte man vielleicht damit anfangen, den jungen Menschen Demokratie zu erklären…