Ganz offensichtlich bin ich kein Diplomat. Mir war das rutschige diplomatische Parkett immer etwas suspekt. Man muss - wie bei jeder zwischenmenschlichen Kommunikation auch - auf den Ton der Botschaft achten, aber wenig zweckdienliche Befindlichkeiten scheinen a priori wichtiger als die Sache an sich zu sein. Die österreichische Bundesregierung hat ihre seit Monaten bekannte Haltung in der Frage des Türkei-Beitritts zur Europäischen Union, genauer zu Verhandlungen darüber, verdeutlicht. Es gab keine gemeinsame Erklärung der EU-Außenminister bezüglich der Türkei, zumal Sebastian Kurz das Veto der österreichischen Bundesregierung wahr gemacht hatte. Hat sich jetzt substanziell etwas geändert?
Der Kuschel-Kurs wenn nur einer kuschelt
Sowohl die Europäische Union als auch die Türkei sind in ihrem innenpolitischen Hickhack gefangen. Seit über einem Jahr schafft es die EU nicht, verbindliche Flüchtlingsquoten für jedes Mitgliedsland unter seinen VertreterInnen zu vereinbaren. Die besondere Belastung für beliebte Zielländer (Anm. d. Red.: Deutschland, Schweden, Österreich) ist daher groß. Es wurde eine finanziell substanzielle Einigung mit der Türkei erzielt, die fortan den Flüchtlingsstrom deutlich bremste, zumal sie Flüchtlinge nicht frei nach Europa ziehen ließ.
In der Türkei versucht der streitbare Präsident Recep Tayyip Erdogan seit geraumer Zeit eine Verfassungsänderung auf den Weg zu bringen, die ihm eine ähnliche Machtfülle wie jener des französischen oder amerikanischen Präsidenten verleiht. Innerstaatliche Konflikte, egal wie homo- oder heterogen ein Land auch sein mag, sind hier vorprogrammiert. Aber diese Konflikte gehören in einer Demokratie zum Austauschprozess - siehe das Referendum in Italien. Soweit, so normal.
Schwierig wird die Situation, wenn eine Konfliktpartei, namentlich die Türkei, den „Flüchtlingsdeal“ mit der Europäischen Union als politisches Faustpfand verwendet, um einerseits außenpolitisch ein Druckmittel zu haben und innenpolitisch die geopolitische Bedeutung der Türkei zu unterstreichen. Hier entsteht eine gefühlte Abhängigkeit der in sich zerstrittenen EU zur Türkei. Wenn aber die Verteilungsquoten für Flüchtlinge umgesetzt würden, wäre dieses Druckmittel weg und jede Moralpredigt aus Brüssel wäre etwas glaubwürdiger.
Die Türkei als Ausdruck eines europäischen Systemversagens?
Warum die EU die Türkei braucht, erscheint logisch. Für die symptomatische Behandlung der inneren Zerrissenheit. Ein wesentliches Problem - wobei dieses in absoluten Zahlen gesamteuropäisch gar kein Problem ist - wird einfach ausgelagert. In der Zwischenzeit spitzt sich die innenpolitische Situation der Türkei zu und kulminiert in einem gescheiterten Putschversuch des Militärs. Was folgte waren Verhaftungswellen - auch gegen LehrerInnen, Staatsanwältinnen/Staatsanwälte, RichterInnen und Beamtinnen/Beamte - zu denen man stehen kann, wie man möchte. Meiner persönlichen Auffassung nach, sind derartige Wellen mit einem demokratischen Rechtsstaat unvereinbar.
Das sahen auch politische VertreterInnen innerhalb der Europäischen Union so. Doch ihnen waren die Hände gebunden. Der Flüchtlingsdeal schwächte ihre Positionen deutlich ab. Das offizielle Österreich, das global gesehen ein Nutznießer dieses Deals ist, kritisiert lautstark die Türkei. Hinter den Kulissen muss man sich schon überlegt haben, wie der heranstürmende Flüchtlingsstrom kontrolliert werden kann. Denn das Ergebnis kann nur sein, dass die Türkei mittelfristig den Deal platzen lassen wird. Und wenn ihnen der europäische Geldhahn zugedreht würde, hätte plötzlich die EU ein Druckmittel. Dass sich diese Situation nicht so darstellt, bringt ein europäisches Systemversagen zum Ausdruck.
Fazit: Substanzielle Veränderungen?
Auf dem diplomatischen Parkett stellt sich diese Situation verkrustet dar. Um sie zu lösen, steht kein Patentrezept zur Verfügung. Inhaltlich scheinen die Stellungen bezogen zu sein, allerdings seit Wochen und Monaten und nicht erst seit gestern. Dass die Türkei jetzt gegen das offizielle Österreich schießt, ist keine Änderung der Situation. Das geschah bereits früher. Dass Österreich seine Haltung nun durch ein Veto verdeutlichte, ist auch keine Neuerung. Das wurde auch schon früher angedroht. Also hat sich substanziell nichts geändert. Geändert haben sich die Dinge für die türkischen SchülerInnen. Ein Teil ihrer LehrerInnen ist nun verhaftet und europäische Austauschprogramme scheinen vorerst in weite Ferne gerückt zu sein. Substanzielle und nachhaltige Veränderungen sind nur auf dem Bildungsweg umzusetzen. Aber das braucht Zeit. Wenn ich die türkischen KollegInnen in EU-Projekten richtig verstehe, findet dieser Prozess des Umdenkens bereits statt. Bis er zu sehen sein wird, wird noch viel Wasser die Donau entlang fließen. Aber im Umgang mit Populisten haben wir eines gelernt: Personen wie Recep Tayyip Erdogan wird man nicht kurzfristig davon überzeugen, Humanisten zu werden …