Ich komme gerade von den Salzburger Festspielen zurück, wo ich Zeuge großartiger Generalproben wurde. Als ich im Konzertsaal des großen Festspielhauses beobachtete, wie Ricardo Muti mit den Wiener Philharmonikern arbeitete, fragte ich mich, ob ein Klassenraum ähnlich funktionieren muss. Klar, der Dirigent bringt die vielen Talente eines Orchesters unter einen Hut und am Ende ist das symbiotische Endprodukt ein Orchester, in dem sich keine/r vernachlässigt fühlt und zur Geltung kommt. Funktioniert Schule ähnlich?
Das Potenzial der Nicht-Konformität!
Bevor die vielen unterschiedlichen Schüler/-innen auch nur harmonieren können, müssen die vielen Talente erkannt werden. Unter einen Hut bringen bedeutet im Schulkontext nicht, alle über einen Kamm zu scheren und am Ende beinahe gleiche Zombies zu erziehen. Im Schulkontext bedeutet unter einen Hut bringen, jede/n Schüler/-in mit ihren/seinen Talenten zu akzeptieren und die Stärken derart zu fördern, dass sie gewinnbringend zur Geltung kommen. Wenn wir die Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur der Schüler/-innen endlich für gut befinden und nicht militärisch erzogene Zinnsoldaten produzieren möchten, haben wir verstanden, was die Aufgabe der Schule ist.
Am Ende brauchen wir keine angepassten Menschen, die vor dem Hintergrund der Leistungsgesellschaft alle gleich auf Herausforderungen des Alltags reagieren können. Am Ende brauchen wir Schüler/-innen, die ihre Talente erkannt und gefördert haben und sie für die Gesellschaft nutzen können. Dann haben wir als Gesellschaft die Chance, uns weiterentwickeln zu können.
Die Lehrkraft als Dirigent!
Bisher tritt die Lehrkraft immer noch vorrangig als Wissensvermittlerin auf. Aufmerksame Leser/-innen der Innovationsschule werden bemerkt haben, dass die Rolle der Lehrkraft über die Wissensvermittlung hinausgeht. Vielmehr geht es darum, Lernbegleiter zu sein. Die Schüler/-innen am Weg des Erwachsenwerdens zu begleiten, die Talente und Herausforderungen zu erkennen und ihnen dabei zu helfen, sich selbst zu entwickeln. Im Klassenverband - und das ist ein Aspekt, der gesellschaftlich so sehr unterschätzt wird, wenn über die Lehrer/-innen gesprochen wird - müssen 25 unterschiedliche Charaktere mit ebenso vielen unterschiedlichen Biografien und Herausforderungen zu einem „stimmigen“ ganzen geformt werden. Sich dieser Herausforderung über zehn Monate im Jahr zu stellen, ist eine vielunterschätzte Knochenarbeit.
Das ist die wesentlichste Herausforderung der Lehrer/-innen heute. Gerade im Kontext sozialer Schieflagen. Wir leben - und das ist gut so - in einer diversifizierten Gesellschaft, mit so vielen unterschiedlichen Herkünften, Talenten und Nuancen, dass es bereits eine große Herausforderung ist, alle in einem politischen System zur Geltung zu bringen. Die Schüler/-innen sind das soziale Abbild ihrer Eltern und ein „normaler“ Klassenraum war vielleicht nie so vielfältig wie heute.
Fazit: Das Bild des Orchesters!
In meinem Kopf ist das Bild des Orchesters noch sehr präsent, allerdings in einer anderen Form, als gemeinhin üblich. Ich sah die Mitglieder/-innen der Wiener Philharmoniker in privater Kleidung, bunt und vielfältig. Deshalb musste ich an einen Klassenverband denken. Viele herausragende Talente bewegen sich auf ein gemeinsames Ziel zu: Besser zu werden - individuell und als Gruppe. Und ein Dirigent erkennt die Talente.
In der Klasse muss die Lehrkraft die Talente erkennen und fördern. Die Schüler/-innen sind bunt und unterschiedlich und können, gut geführt, besser werden. Es geht um eine symbiotische Beziehung, die alle besser macht. Die Lehrkraft lernt unglaublich viel von den Schüler/-innen und alle Lehrer/-innen werden mir hier Recht geben. Und wenn es gelingt, die einzelnen Schüler/-innen in einer diversifizierten Gruppe zur Geltung zu bringen, lernen sie von einander viel und über sich selbst noch mehr …