Die Bilder des Putschversuchs in der Türkei sind noch präsent. Während des Putsches zu kommentieren, ist nicht ratsam, weil die Situation verwirrend ist. Aber nach ein paar Tagen hat sich die Situation kristallisiert und was ich jetzt sehe, bereitet mir mindestens genauso viel Unbehagen. Die Hintergründe sind unklar, das Vorgehen des Machthabers jetzt allerdings nicht. Aber warum sehe ich den demokratischen Rechtsstaat in der Türkei gefährdet und muss die Europäische Union ihre Kooperation mit diesem Land überdenken?
1. Ein dilettantischer Putschversuch!
Bereits am Morgen des Putschversuchs - er startete ungewöhnlicherweise am Abend - wurden Stimmen laut, die von einer Inszenierung gesprochen haben oder zumindest von einem dilettantischen Versuch des Militärs. Erstens, es haben nur Teile des Militärs versucht, das bestehende Regierungssystem von Erdogan zu stürzen. Vermutlich jene Offiziere, die - so heißt es aus der Gerüchteküche - vermutlich am folgenden Morgen hätten abgesetzt werden sollen. Zweitens erfolgte der Putschversuch am Abend, was bisher nie der Fall war, wurden frühere Putschversuche stets in den frühen Morgenstunden durchgeführt.
Und drittens wurden die Medien für den Zeitraum des Putsches bisher ausgeschalten. In die heutige Zeit transferiert bedeutet das, das Internet hätte eigentlich gesperrt werden sollen, damit keine Kommunikation über die sozialen Medien stattfindet. Doch dieses Mal wurden die sozialen Medien sogar für eine Gegenbewegung des aktuellen Machthabers instrumentalisiert. Also entweder leben die putschenden Offiziere in der Vergangenheit und negieren jeglichen Fortschritt, planten nicht durchdacht oder haben sich selbst mit diesem Putsch überrascht.
2. Putsch als „Geschenk Gottes“?
Diese Aussage von Recep Tayyip Erdogan hat mich geschockt und zum Nachdenken gebracht. Wie in aller Welt kann ein Putsch mit so vielen Todesopfern als „Geschenk Gottes“ bezeichnet werden? Bloß, damit der Herr mit der Kampfrhetorik seine zahlreichen Gegner mit der Rechtfertigung des Putschversuchs beseitigen und verhaften kann? Dass in den nächsten zwei Tagen über 2.000 Richter und Staatsanwälte verhaftet wurden, zeigt doch, dass es vorher schwarze Listen gegeben haben muss. Diese „Säuberungen“ (Anm.: Zitat Erdogans) - auch dieses Wort ist mehr als belastet - erinnern an eine andere Zeit.
3. Demokratie sieht anders aus!
Rechtsstaatliche Strukturen sehen anders aus! Erstens, und das sei dem Militär ins Stammbuch geschrieben, kann ein fundierter Machtwechsel in einem Land nur an den Wahlurnen vollzogen werden. Wenn der Einfluss des Militärs so groß ist, wäre es ratsam, die Opposition bei der nächsten Wahl zu mobilisieren. Auf der anderen Seite steht ein Machthaber, der die Gelegenheit für sich nutzt, um seine eigene Macht zu stabilisieren, indem er unliebsame Gegner/-innen beseitigt. Alles natürlich mit dem Argument, sie wären in den Putsch involviert gewesen. Auf die gerichtlichen Prozesse bin ich gespannt.
Fazit: Ein Teil Europas verhält sich anders!
Nun gedenkt Erdogan offenbar, die Todesstrafe wieder einzuführen und katapultiert die Türkei damit aus humanistischer Sicht um Lichtjahre zurück. Just jenes Land, das im nahen Osten als säkulare Gesellschaft sich in Richtung Moderne zu bewegen schien. Jenes Land, das die Europäische Union gerne als Partner und eines Tages als Mitglied hätte. Jenes Land, das im Kampf gegen den IS und bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise eine Schlüsselrolle einnehmen wird. Aber was wir jetzt sehen, ist eher besorgniserregend. Vertreter/-innen der Europäischen Union haben bereits gestern verkündet, dass für eine Türkei mit wieder eingeführter Todesstrafe kein Platz in der Union ist. Konsequenterweise müsste auch die Kooperation mit der Türkei überdacht werden. Aber dafür wird es keine Einigkeit im Rat geben …