Bisher habe ich es gar nicht so wahrgenommen. Aber die Reisefreiheit ist in Europa durch die Ereignisse des letzten Jahres und der Rückkehr zur Kleinstaaterei in manchen Ländern erheblich eingeschränkt. Wobei Einschränkung definiert werden muss, aber ein wesentliches Element des europäischen Integrationsprozesses - der freie Personenverkehr - hat erheblich gelitten. Ich sitze gerade am Flughafen Charles de Gaulle in Frankreich als ich die Zeilen schreibe und mir meine Gedanken mache.
1. Ein Kind Europas!
Ich sehe mich als einen deklarierten Europäer, ein Kind, das zur Zeit des Kalten Krieges geboren wurde und den Fall der Berliner Mauer erlebt hat. In meiner Erinnerung sind die Erlebnisse meiner Kindheit noch präsent als ich mit meinen Eltern Camping-Urlaube im Ausland gemacht habe und wir stets mehr Zeit für die Grenzkontrollen einplanen mussten. Teilweise haben wir ziemlich lange in einem Auto ohne Klimaanlage - die waren damals nur absoluten Luxus-Karossen vorenthalten - an den Grenzen warten mussten. Als Österreich der Europäischen Union und dem Schengen-Raum beitrat, gehörten diese Dinge plötzlich der Vergangenheit an.
Doch genau diese Vergangenheit scheint uns jetzt wieder einzuholen. Wieder ertönt halbstündlich das Verkehrsupdate mit den Grenzwartezeiten im Radio - an der Grenze zu Deutschland!! Wieder planen wir die Grenzwartezeiten bei der Reiseplanung ein. Wieder stehen wir an Flughäfen in Europa und glauben, wir sind in New York gelandet. Die Passkontrollen würden uns das glauben machen.
2. Die Sicherheitsillusion!
Natürlich werden jetzt Stimmen laut, die eine eingeschränkte Personenfreiheit mit Sicherheitsüberlegungen zu rechtfertigen versuchen. Aber ist das subjektive Sicherheitsgefühl tatsächlich gesteigert worden? Ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn ich diese Sicherheitsmaßnahmen sehe. Wir leben in einer Gesellschaft mit erhöhtem Sicherheitsrisiko, und das wird mir bei diesem Anblick bewusst. Viel schlimmer ist aber, dass die Motivation dieser Maßnahmen Angst ist. Die Angst vor Anschlägen, vor Terrorismus oder vor „unbewältigbaren“ Flüchtlingsströmen. Unser Selbstbewusstsein ist erschüttert.
Nicht, weil wir berechtigte, menschliche Ängste haben. Das Selbstbewusstsein als Europäer/-innen ist erschüttert! Denn plötzlich glaubt eine Mehrheit - zum Teil berechtigt - dieses Europa, dem wir 1995 beigetreten sind, findet keine Lösung. Dass es die gewählten Volksvertreter/-innen auf nationalstaatlicher Ebene sind, die auf europäische Ebene keine Lösung finden, wird verschwiegen. Die Systemauslegung ist defekt, nicht unbedingt das System. Wenn wir keine einheitlichen, europäischen Sicherheitsstandards zustandebringen, kann das System nichts dafür. Eher die Protagonisten. Wenn jemand vom Berg stürzt, geben wir auch nicht dem Berg die Schuld …
3. Die Emotionen kochen!
Natürlich sind wir alle besorgt - ich auch. Wir alle sorgen uns um unsere Familien, unsere Kinder. Wir alle wollen in einer halbwegs sicheren Umgebung leben, wohlwissend, dass es nie eine vollständige Sicherheit geben wird. Doch meistens vernebeln unsere Emotionen die Realität. Tatsächlich leben wir in einer relativ sicheren Umgebung, um die uns viele Erdteile beneiden. Und während wir alle glauben, es wäre in den letzten Jahren schlimmer geworden, haben wir die Anschläge der Basken in Spanien oder den Bürgerkrieg in Nordirland vergessen. Wirklich Angst habe ich nur vor einer zunehmenden Radikalisierung der eigenen Bevölkerung! Vor allem die Gruppe der Identitären bereitet mir einiges Unbehagen. Sie greifen zu Gewalt. A priori nicht durch Taten, sondern durch Worte. Das ist das Schlimmste, was einer modernen Demokratie passieren kann: Kein reflektierter Austausch von Positionen!
Fazit: Kein Europa der aufgescheuchten Hühner!
Die Antwort auf die Fragen der Gegenwart sind positive Emotionen und die Rückkehr zur Sachlichkeit. Die Populisten Europas haben es zustande gebracht, jede Diskussion zu emotionalisieren. In dieser Emotion werden - vor allem von ihren Wähler/-innen - keine rationalen Entscheidungen mehr getroffen. Wir laufen wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend und schreien von einem Brexit, hohen Grenzzäunen, Grenzmauern, Videoüberwachung und einer europäischen Diktatur.
Das Ergebnis wäre ein Brexit, Grenzkontrollen, unreflektierte Politiker/-innen in ihren Ämtern, unreflektierte Wähler/-innen, das Ignorieren menschlicher Grundwerte, die Einschränkung der persönlichen Freiheit, Sicherheitswahnsinn und ein vergiftetes Klima. Bevor wir alle das nächste Mal eine Meinung zu den oben genannten Themen laut posaunen, atmen wir lieber einmal tief durch und recherchieren sorgfältig aus seriösen Quellen. Letztlich erwarten wir diese Vorgehensweise auch von den Schüler/-innen in der Schule …
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