Persönlich finde ich die „ORF Wahlfahrt“ ein interessantes Sendungsformat. Die Kandidat/-innen einer Wahl sitzen auf dem Beifahrersitz eines Klassikers und sprechen offener über ihre Gedanken. Die letzte Wahlfahrt habe ich besonders aufmerksam verfolgt, zumal ein Universitätsprofessor - üblicherweise für seine Nachdenkpausen berühmt - freier gesprochen hat. Bei aufmerksamen Seher/-innen wurden hier einige Diskrepanzen oder Vorwürfe zu seinem öffentlichen Bild korrigiert.
Der erste Vorwurf lautet, es wäre ein Betrug an den Wähler/-innen, sich als unabhängiger Kandidat zu geben. Tatsächlich? Unabhängig bedeutet, nicht von einer Partei nominiert zu werden, ungeachtet der Unterstützung, die man nachher erfährt. Thomas Klestil und Heinz Fischer waren bei ihrer Wiederwahl unabhängig, bedienten sich allerdings bewährter Parteistrukturen. Der zweite Vorwurf lautet, Alexander Van der Bellen würde für eine Willkommens-Kultur stehen. Wirklich? Alle Flüchtlinge, die das Land betreten, zu registrieren weil der Staat ein berechtigtes Interesse an der Herkunft hat, um Asylgründe auszuloten, entspricht einer Willkommens-Kultur? Ein anderer Kandidat der BP-Wahl war Teil der Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 und dieser Vorwurf wird da nicht laut? Zur Zeit halten sich 90.000 anerkannte Asylsuchende und jene, die um selbiges angesucht haben, in Österreich auf. Bei einer Bevölkerung von über 8 Millionen entspräche das knapp mehr als einem Prozent. Diese Menschen „überschwemmen“ unsere Kultur? Wer das tatsächlich glaubt, hat vielleicht besondere Bedürfnisse. Wenn die Flüchtlinge an die Zahnfee glaubten, hätte das nichts zur Folge. Es geht um den Islam, zu dem wir ein ambivalentes Verhältnis haben. Daher auch die Formulierung, dass ein Kopftuch ein Kleidungsstück ist, das früher die meisten Bäuerinnen trugen.
Dann die klare Abgrenzung: Möchte sich ein Patient nicht von einer Frau behandeln lassen, hat er Pech gehabt. Meines Wissens nach werden Kirche und Staat in Österreich getrennt. Wenn danach aber Kirche und Gesellschaft nicht getrennt werden, entstehen komische Konstrukte, wie beispielsweise das Konkordat, die Befreiung der Kirche von der Grundsteuer und Ressentiments dem Islam gegenüber. Dass ein Bundespräsident kein Oberlehrer sein und dennoch klar Stellung beziehen soll, wenn „Gewalt durch Stillschweigen übergangen wird“ (Anm. der Red.: Zitat Alexander Van der Bellen), ist die vermutlich legitimste Rolle dieses Amtes. Über Amtsauslegungen, Inhalte und Positionen aller Kandidat/-innen haben wir eine schwere Entscheidung zu treffen. Hoffentlich entlang fundierter Inhalte …
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