Hermann Morgenbesser ist für die Innovationen, die er in seiner Schule (Anm. d. Red. BG/BRG Klosterneuburg) vorangetrieben hat, über die Landesgrenzen bekannt. Im ersten Teil des Interviews spricht er über seine Vision einer themenorientierten Schule, warum neue Technologien richtig eingesetzt zu einem Paradigmenwechsel in der Bildung führen können und warum mit Tablets jene pädagogische Veränderung stattfinden kann, die mit den Notebooks vor Jahren nicht gelungen ist.
Axel Zahlut:
Ich habe für das European Schoolnet die BYOD (Bring your own device) - Broschüre übersetzt und dein Name fiel ständig, insbesondere im Kapitel 5.1, der Fallstudie aus Österreich.
Hermann Morgenbesser:
Ja, ich habe damals an der Studie teilgenommen. Das Ganze war ja unter der Leitung von Frau Jokisalo …
AZ:
… und wissenschaftlich begleitet von Jill Attewell und Jim Ayre …
HM:
Genau. Wurde auch Christian Schracks Beitrag festgehalten?
AZ:
Ja, aber wirklich fundiert scheint er nicht gewesen zu sein - untypisch eigentlich.
HM:
Ja, das lag daran, dass sein Part nicht abgeschlossen wurde - ob von ihm oder dem EUN - deshalb habe ich es abgeschlossen. Und ich habe den Interview-Auszug bekommen, den ich dann gemacht habe.
AZ:
Das Ziel war ja, das einigermaßen standardisiert zu gestalten, weshalb alle Interview-PartnerInnen die gleichen Fragen gestellt bekamen …
HM:
… und aus den laufenden und abgeschlossenen EU-Projekten heraus sollte für oder wider BYOD argumentiert werden, das war der Zugang …
AZ:
Und das war meine erste Frage. Mir hat in der gesamten Broschüre eine Schul- bzw. Unterrichtsvision gefehlt.
HM:
Ja, die war nicht enthalten und wurde nicht abgefragt. Die Vision ist aus meiner Sicht ganz klar eine themenorientierte Schule, die letztlich mit Learning Activities arbeitet, fächerübergreifend wie es in Finnland gemacht wird. Bring your own device wird man sicher nicht nur durch den Lehrplan abdecken, sondern durch Lernaktivitäten, die letztlich durch den Lehrplan gedeckt sein müssen. Alles andere ist einfach nicht mehr zeitgemäß. Man wird also den Unterricht durch Lernaktivitäten anreichern. Es geht also darum, dass Lernsequenzen eingebunden werden. Im neuen Mathematikbuch (Anmerkung der Redaktion: der iKON-Verlag hat gemeinsam mit Hermann Morgenbesser ein Mathematikbuch basierend auf QR-Codes entwickelt) tun wir genau das. Ich sehe in dieser Vorgangsweise die einzige Chance, weil dass alles Lehrplan-angepasst zu gestalten, ist illusorisch. Der Lehrplan ist ja nicht für elektronische Devices geschrieben worden.
AZ:
Und den Lehrplan umzuschreiben würde vermutlich zu lange dauern, die Devices ändern sich ja schneller?
HM:
So ist es. Also den Lehrplan zu nehmen und die Lernaktivitäten entsprechend einzupassen, genau so wie wir das im Mathematikbuch gemacht haben, halte ich für die aktuell einzig machbare Variante. Ob man das dann in einen digitalen Lehrplan münden lassen kann, hängt von der statistischen Erfahrung ab. Soll heißen: Wie bringen die LehrerInnen derartige Aktivitäten in den Unterricht. Die Edugroup (Anm. d. Red. Bildungsorganisation in Oberösterreich) geht das genau so an und spricht aber gleichzeitig auch davon, dass das aktuell nicht flächendeckend einsetzbar ist, also sehr vorsichtig. Sondern nur punktuell und schwerpunktmäßig. Wir sind also im Projektstadium. Und im Projektstadium kann das eigene Gerät punktuell eingesetzt werden und danach findet vielleicht eine sternförmige Verbreitung statt, z.B. in Mathematik. In diesem Ansatz sehe ich kein Problem, zumal Mathematik sicher das Fach ist, wo eine flächendeckende Verwendung am einfachsten wäre.
"Der Lehrplan kann nur von oben kommen,
BYOD ist eine Initiative von Unten"
AZ:
Was heißt punktuell?
HM:
Punktuell heißt einmal pro Woche. Einmal, in manchen Fällen öfter, pro Woche gestaltet die Lehrkraft eine Lernaktivität elektronisch und kapselt sie. Das heißt: Diese findet ausschließlich auf elektronischen Geräten statt. Diese Kapsel wird dann ins pädagogische Geschehen integriert. Hätten wir einen digitalen Lehrplan, wäre die Pädagogik vorgegeben. Aber dafür fehlt die Bereitschaft einen derartigen Lehrplan zu entwickeln und es fehlt die Bereitschaft, diesen anzuwenden. Der Lehrplan kann ja nur von „Oben“ kommen, während „Bring your own Device“ eine Initiative von „Unten“ ist. Außer im Falle Portugals, das flächendeckend die Magellan-Notebooks gekauft und in den Schulen verbreitet hat.
AZ:
Zur sozialen Frage: Wie wird abgefedert, wenn sich 2, 3 SchülerInnen derartige Geräte nicht leisten können?
HM:
Da hängt von der Wirtschafts- und Kaufkraft des Schulgebiets ab. In Klosterneuburg wird das, wie im Fall der Schule in Kierling, über den Elternverein finanziert - das findet gerade statt, weil ihnen 2 Geräte fehlen. In einer Schule in Wien, in der nicht alle Eltern berufstätig sind, Migrationshintergrund oder Flüchtlingsstatus haben, schließt sich die Schulgemeinschaft zur Finanzierung zusammen oder es gibt externe Finanzierungsmöglichkeiten.
AZ:
Das heißt, letztlich geht es um einen Paradigmenwechsel: Die Entkoppelung von Schule und Lehrmaterialien?
HM:
Ja, genau! Im Angloamerikanischen Raum wird davon ausgegangen, dass das „e“ vor dem „learning“ wegfällt und daher nicht mehr auf das technische Handling fokussiert wird. Daraus schließe ich, dass das künftig kein Problem sein wird. Letztlich ist „e“, also der Fokus auf das elektronische Gerät eine europäische Erscheinung und ein Fokus, den wir aber nicht haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, das in allen englischen Schulen das zu 100 % umgesetzt ist, aber ich weiß von einer Schule in Manchester oder Kensington, die „Flipped Classroom“ umgesetzt haben. Der geht ja davon aus, dass bereits im Vorfeld recherchiert wird und die Eltern vorab informiert werden. Das wird nur über ein Lehrmanagement-System gehen, das die Umsetzung des Lehrplans entweder in genauen Wochenplänen wie in der Hellerup Skool Kopenhagen oder der Würthschule (Anm. d. Red. Freie Schule Anne-Sophie) per Check-In der SchülerInnen, auch mit eigenem Device, funktioniert oder in Portugal vor Ort und „Bring your Own Device“ wird dann plötzlich zu „Bring in analogen Unterricht“, weil die Geräte vor Ort sind.
AZ:
Jetzt hast du zwei Aspekte angesprochen. Zum Einen die Alternativ-Strategie, wenn das Gerät vielleicht einmal nicht mehr funktioniert und zum Anderen eine provokante Frage: Findet Unterricht nur noch zufällig in der Schule statt?
HM:
Ja, dieser Aspekt wird sicher mehr Bedeutung bekommen, weil es ja auch technisch machbar ist. Der Ort spielt nicht mehr diese Rolle. Aber Voraussetzung ist, dass die Lehrkraft - ähnlich wie in Norwegen - de facto nur noch themenorientiert arbeitet.
"Letztlich ist Lernen also ein
konstruktivistisches Entwickeln ..."
AZ:
Die Würth-Schulen in Deutschland haben das auch, aber standardisiert findet es in Norwegen statt.
HM:
Letztlich ist Lernen also ein konstruktivistisches Entwicklen statt Lernen! Die SchülerInnen steuern zunehmend die Qualität mit.
AZ:
Das heißt wiederum, dass der Shift methodisch in Richtung des realen Lebens geht.
HM:
Ja! Je höher die Bildungsstufe ist, desto mehr Fokus wird darauf zu legen sein. Auch kann Inklusion und Begabtenförderung vermutlich nur so stattfinden, also gruppenorientiert. Die modulare Oberstufe bietet dafür eine erste Möglichkeit, zumal sie auch noch von einem Lehrplan eingefangen ist. Ich habe z.B. einen Schüler, der in der gleichen Zeit, wie seine KollegInnen ein, zwei statistische Tools mehr im Mathematikunterricht entwickelt, ohne aufzufallen.
AZ:
Das heißt, dass durch die Devices eine erfolgreichere Individualisierung stattfinden kann?
HM:
Ja!
AZ:
Was spricht dagegen, dass LehrerInnen derartige Devices einsetzen?
HM:
Der Lernprozess findet nicht schneller statt, was man sich ja oft wünscht. Er wird qualitativ anders und bringt andere Materialien hervor. Es wir auch Bereiche geben, die sich elektronisch nicht ausdrücken lassen werden, da werden bewährte pädagogische Konzepte besser sein. Allerdings sicher nicht in den Naturwissenschaften. Ich meine eher Kunst oder Sport.
AZ:
Positiv gesehen?
HM:
Es wird eine andere, vielleicht der Realität nähere, Form des Arbeitens gefördert.
"Die Qualität des Speicherungsprozesses
ist eine andere geworden..."
AZ:
Wir glaubten ja schon einmal, einen Paradigmenwechsel zu erleben. Als ich die Schule abgeschlossen habe, kamen gerade die ersten Notebook-Klassen auf. Warum haben sich diese damals nicht durchgesetzt?
HM:
Erstens war die Internet-Verbindung zu schlecht. Das ist heute - zumindest in meiner Schule (Anm. d. Red. BG/BRG Klosterneuburg) kein Thema mehr. Zweitens ist auch die Qualität des Speicherungsprozesses eine andere geworden. Heute reicht es den SchülerInnen zu sagen, „bitte speichern“ und es ist nicht mehr notwendig, eine Speicherressource anzugeben. Das ist Sache und Verantwortung der SchülerInnen, ob das jetzt eMail, One Drive oder Dropbox passiert, ist egal.
AZ:
eMail, One Drive oder Dropbox sind ja per se vermutlich nicht pädagogisch sinnvoll, sondern sind es nur dann, wenn die Lehrkraft sie pädagogisch sinnvoll „macht“…
HM:
Ja natürlich! Das ist die Verantwortung der Lehrkraft. Diese bekommt die Materialien von den SchülerInnen und das Medium wird zum Zweck, nicht zum Mittel. Und damals hat man sogar darüber nachgedacht, ob der/die LehrerIn noch sinnvoll ist. Das hat sich heute geändert. Die Bereitschaft, als Coach im Unterricht aufzutreten, ist unter den LehrerInnen größer und wird noch wichtiger. Es muss natürlich in eine Policy eingebettet sein. Im Idealfall ist alles über eine zentrale Plattform wie Moodle zu finden, für jeden Gegenstand, für jedes Thema, in jeder Klasse.
AZ:
Spricht das dann nicht gegen die freie Wahl der Unterrichtsmittel der LehrerInnen?
HM:
Ja! Die freie Wahl kann ja nur eine Methodenfreiheit sein, keine Inhaltsfreiheit! Die Direktion oder das Schulaufsichtspersonal stellt die Qualität sicher.
AZ:
Wenn ich so zuhöre, passt das in ein anderes Konzept, das in der BYOD-Broschüre des European Schoolnet erwähnt wurde: Nicht „Bring your Own Device“ sondern „Bring your Own Browser“. Wo der dann ist, wäre ja fast egal, oder?
HM:
Ja. Zum Beispiel Classflow der Firma Promethean, kann alles Browser-basiert: speichern, abrufen, kollaborieren, recherchieren, bewerten. Alles in der Cloud. Auch die Vorbereitung der LehrerInnen. Das muss nicht mehr auf dem interactive Whiteboard stattfinden.
AZ:
Hat sich das interactive Whiteboard ein wenig überholt?
HM:
Der pädagogische Change hat nicht stattgefunden. Die Lehrkraft steht noch immer an der Tafel und der Unterricht ist noch immer LehrerInnen-zentriert. Das macht es schwer, die SchülerInnen in den letzten Reihen einzubinden!
AZ:
Das hieße ja, dass elektronische Devices die KlassenschülerInnen-Höchstzahl flexibler gestalten können?
HM:
Ja, das heißt es! Das ist eine Frage der eingesetzten Lehrmethoden. Wenn es um die Abarbeitung geschichtlicher Ereignisse geht, wird das egal sein. Wenn es um politisches Verständnis geht, werde ich mich dem anders nähern müssen, weil gerade politisches Verständnis leichter in einer Community zu erschließen ist.
AZ:
Das ist interessant: Könnte das Unterrichtsprinzip der politischen Bildung leichter mit diesen Devices verwirklicht werden?
HM:
Ja! Weil das politische Wissen dieser Schule, in diesem Kontext leichter mit elektronischen Devices zu erschließen ist, als mit einem sechs Jahre alten Schulbuch - ich denke an die Flüchtlingskrise, die in keinem Lehrbuch steht. Der Rest muss sowieso von der Lehrkraft angeregt werden.
Mag. Hermann Morgenbesser ist IT-, Statistik und
Computerscience-Lehrer am BG/BRG Klosterneuburg
und IT-Koordinator und Kustos an dieser Schule.
Darüber hinaus ist er österreichs Botschafter für das
Future Classroom Lab in Brüssel und
Scientix Botschafter. Das BG/BRG Klosterneuburg
ist auch Teil des Tablet-Projekts
und setzt unter der Federführung von
Hermann Morgenbesser seit Jahren auf
neue Technologien.