In einem „Spiegel“-Artikel vom 11.08.2015 legen die Autoren einer interessanten Studie Fakten zur Diagnose des Aufmersamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS) bei Kindern im Volksschulalter auf den Tisch. Die Ergebnisse bringen einen kritischen Menschen zum Nachdenken. Je jünger das Kind ist - also erst mit Stichtag 30. September sechs Jahre alt wird, aber bereits die Schule besucht - desto größer ist die Wahrscheinlichkeit von den SchulärztInnen, eine ADHS-Diagnose zu bekommen, sogar um 60 Prozent. Interessanterweise gibt es eine Korrelation zwischen einem hohen Bildungsgrad der Eltern und der Diagnose, weil jene Eltern häufiger Nachteile einer frühen Einschulung in Kauf nehmen, um die Schulkarriere des Kindes optimal vorzubereiten. Interessant ist auch, dass ADHS in Schulklassen mit herausfordernden Bedingungen (hoher Migrationsanteil und Klassengröße) öfter diagnostiziert wird, als üblicherweise.
In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen:
Erstens: Ist es pädagogisch wirklich sinnvoll im gegenwärtigen Schulsystem die SchülerInnen möglichst früh einzuschulen? Gerade in diesem Alter scheinen die Unterschiede bezüglich der Reife zwischen fünf, sechs und sieben Jahren erheblich zu sein. Trifft die Lehrkraft auf eine Klasse mit einer sehr heterogenen Altersstruktur, so fallen Unterschiede zwischen den Kindern schneller auf und aus Gründen der Bequemlichkeit tendiert man zu einer ADHS-Diagnose und hofft, dass die Wirkung der Medikamente eine homogenere Klassenstruktur zur Folge haben.
Zweitens: Jene LeserInnen, die sich an ihre Kindheit erinnern, kommen zum gleichen Schluss wie jene, die es bei ihren eigenen Kindern beobachten. Kinder sind unruhiger je jünger sie sind! Im Kindergartenalter „dürfen“ Kinder ein „Zappelphilipp“ sein - dem Erfolg während ihrer späteren Bildungslaufbahn steht hier nichts im Wege. Also kann der Verdacht formuliert werden, ADHS wäre eine bequeme Diagnose?
Am Sterbebett soll der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, der als Entdecker von ADHS gilt, die Erfindung dieser Störung zugegeben haben. Medizinisch gesehen gibt es keine Biomarker, die ADHS nahelegen, aber eine Ansammlung von Verhaltensweisen, die klinisch von der Norm abweichen. In einem sehr informativen Artikel der FAZ wird nahegelegt, dass Diagnosen in diese Richtung einer individuelleren Therapie bedürfen - Kardiotraining, Verhaltenstraining und Elterntraining. Wirken diese Maßnahmen nicht, so kann auf das allseits gefürchtete Medikament Ritalin zurückgegriffen werden. Dass die Verabreichung aber in den letzten zehn Jahren dramatisch angestiegen ist, zeigt, welcher Profit damit gemacht wird und wie bequem eine Verabreichung für die Eltern und LehrerInnen hinsichtlich des erwünschten Verhaltens ist. Vielleicht sollten SchulpsychologInnen, SozialarbeiterInnen und ÄrztInnen gemeinsam eine Umweltanalyse der PatientInnen machen, bevor der Griff zum Rezeptblock erfolgt. Das wäre ein großer Dienst an den Kindern …